Per Cloud und AI zum abgasarmen Antrieb

Enormer Effizienzgewinn durch cloudbasierte Simulation

Die Ausrichtung der Abgasgesetzgebung an Real World Emissions löst einen neuen Komplexitätsschub in der ohnehin aufwendigen Powertrain-Entwicklung aus. Damit der Zeit- und Kostenaufwand von Fahr- und Prüfstandtests nicht ausufert, treibt ETAS deren Virtualisierung voran. In Verbindung mit cloudbasierter Simulation und Artificial Intelligence (AI) tut sich eine neue Entwicklungslandschaft auf, die die gesetzeskonforme Auslegung abgasarmer Antriebe auf eine ganz neue Effizienzstufe hebt.

Die Entwicklung moderner Fahrzeuge ist ein hochkomplexer Prozess. Das gilt erst recht für den Powertrain. Tausende Funktionen greifen ineinander. Hunderte Entwickler arbeiten parallel über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg an Motorkomponenten, Nebenaggregaten und Steuergerätefunktionen. Jede Änderung kann sich auf die Arbeit aller anderen auswirken. Zur Prüfung und Messung der Einflüsse auf das Fahrverhalten, die funktionale Sicherheit oder die Emissionen dienen jeweils Prüfstandtests und Fahrversuche mit sehr teuren Prototypen und teurem Messequipment. Doch hier tut sich ein Problem auf: Reale Testfahrten sind nicht reproduzierbar, da Verkehr, Witterung, Fahrverhalten und weitere Parameter von Fahrt zu Fahrt variieren. Es ist daher äußerst ineffizient, Auswirkungen von Systemänderungen in realen Tests zu erproben, zumal Versuchsträger knapp und Fachkräfte nicht immer verfügbar sind. Zudem erfordern gerade Tests in Kältezonen oder Höhenlagen oft lange Anreisen. Virtualisierung gilt als Schlüssel zu reproduzierbaren Testresultaten, schnelleren Entwicklungszyklen und zur Beherrschung der Komplexität im Entwicklungsprozess. Im Optimalfall dienen reale Tests und Messungen nur noch der Verifizierung von Simulationen.

Bild 1: Zeitaufwand der Fahrzeugvalidierung – früher und heute.

Virtualisierung systematisch vorantreiben

ETAS hat das Potenzial der Virtualisierung früh erkannt und baut seit Jahren ein Lösungsportfolio für die Simulation einzelner Aggregate und ganzer Fahrzeuge auf. Diese Vorarbeiten erweisen sich nun, wo immer komplexere Antriebsstränge in steigender Variantenvielfalt an die Abgasgesetzgebung der Stufen Euro 6d-Temp und Euro 7 anzupassen sind, als Ausweg aus der Komplexitätsfalle. Denn Emissionsmessungen müssen künftig im realen Fahrbetrieb erfolgen. Real Driving Emissions (RDE) werden mit Portable Emission Measurement Systems (PEMS) gemessen. Als sicherster Weg, Compliance gegenüber den neuen Regularien herzustellen, gilt engmaschiges statistisches Evaluieren der Fahrzeugemissionen. Doch damit droht der Test- und Validierungsaufwand auszuufern. Hier hilft Simulation. Wo es gelingt, Fahrzeuge inklusive der Funktionen von Motor, Nebenaggregaten, Chassis, Reifen bis hin zur Abgasnachbehandlung und auch das Zusammenspiel der Fahrzeugdomänen unter verschiedensten Umwelteinflüssen detailgetreu zu simulieren, sinkt der Testaufwand drastisch. Das setzt allerdings realistische Fahrer- und Streckenmodelle voraus.

Ist eine solche realitätsnahe Simulationslandschaft verfügbar, ergeben sich klare Vorteile: Die Anzahl teurer Fahrzeugprototypen kann reduziert werden. Aufwändige Vorbereitung, wie das Temperieren des Fahrzeugs, das Kalibrieren der Messinstrumente oder das Zurücksetzen der Steuergeräte entfallen. Und weder Messfehler noch gelöste Kabel bringen Zeitpläne durcheinander. Die Planbarkeit in der Validierungsphase steigt.

Cloud eröffnet neue Effizienz- und Qualitätspotenziale

So seltsam es klingt – beim Umstellen auf RDE-Abgasmessungen erweist sich die Realität als großes Hindernis. Sie verhindert identisch wiederholte Testfahrten, birgt das Risiko von Messfehlern und zeitsparendes Parallelisieren von Tests ist kaum möglich. Hinzu kommt der Aufwand für Tests unter verschiedenen klimatischen und topografischen Bedingungen. Auch lassen sich aus finanziellen und organisatorischen Gründen nicht beliebig viele Testfahrer für RDE-Messungen einsetzen.

Vollständige Abdeckung der Entwicklung mit Testdaten gelingt daher nur, wo erfahrene Experten die Testfahrten im Vorfeld exakt designen. Mit steigendem Testaufwand werden sich aber auch hier Unsicherheiten und Engpässe auftun. Dagegen lassen sich mit qualitativ hochwertiger Simulation und entsprechenden Modellen virtuelle Testfahrten hunderttausendfach parallelisieren und beliebig oft reproduzieren. Im Sinne optimaler Workflows arbeiten ETAS, Bosch und ESCRYPT daran, verfügbare Simulationsplattformen, Werkzeuge und Modelle in der Cloud zusammenzuführen. Dort schaffen sie mithilfe von Artificial Intelligence und moderner Cybersecurity eine skalierbare, rundum sichere Simulationslandschaft. So können Powertrain-Entwickler, dank der Rechenleistung der Cloud, tausende Versuchsfahrten parallelisieren – und Änderungen in Antriebsstrang und der Steuergerätesoftware durch engmaschige, modellgestützte Analysen und Regressionstests begleiten und absichern. Neben der Effizienz steigt auch die Qualität. Perspektivisch können cloudbasierte Plattformen das abteilungs- und unternehmensübergreifende Miteinander von Powertrain-Entwicklern auf ein neues Niveau heben. Allerdings waren dafür Herausforderungen zu meistern, um die es nun gehen soll.

Herausforderung Real World Driving

Damit Testfahrten virtueller Fahrzeuge realistische Werte ermitteln, müssen die zugrundeliegenden Szenarien eine hohe Varianz an Fahrstilen, Streckenprofilen, Witterungs- und Verkehrsverhältnissen verfügbar machen. Diese Aufgabe übernimmt das sogenannte Model of Real World Driving. Während das Fahrzeugmodell (Virtual Vehicle) auf verfügbaren Lösungen im ETAS Portfolio basiert, ist das Model of Real World Driving eine Neuentwicklung unter Einsatz von AI. Als Basis dient eine umfangreiche Datenbank mit GPS-Daten realer Fahrten, die mit Karteninformationen angereichert werden. Zudem fießen umfangreiche Messfahrten mit variierenden Versuchsfahrzeugen, Fahrern, Streckenproflen, Wetter- und Verkehrslagen ein, aus denen die Entwickler mithilfe von AI ein höchst variables Modell des realen Fahrens ableiten. Die erzeugten realistischen Trajektorien – etwa Geschwindigkeits-, Steigungs- und Schaltprofle – dienen als Grundlage für die Tests, welche sich mit Virtual Vehicles in der Cloud beliebig parallelisiert ausführen lassen.

Bild 2: Cloudbasierte Entwicklungslandschaft.

Virtual Vehicle in der Cloud verfügbar machen

Auch wenn der ETAS-Virtualisierungs-Baukasten (Bild 3) bereitstand, galt es, die neue Gesamtlösung innerhalb der ETAS Cloud Services produktiv nutzbar zu machen. Dazu zählte eine ganzheitliche Risikoanalyse durch ESCRYPT, aus der ein umfassendes Security-Konzept zum Schutz der prozessierten, oft sensiblen Entwicklungsdaten hervorging. Die Zertifizierung gemäß ISO 27001 ist eingeleitet. Analog zu Software-in-the-Loop-(SiL-)Verfahren ist die Virtual ECU als Functional Mockup Unit (FMU) ins Virtual Vehicle eingebunden. Sie tauscht sich über gängige Datenbusse mit den in die jeweilige Simulation eingebundenen Modellen aus. In Powertrain-Projekten bildet das Virtual Vehicle präzise die Abgasemission am Endrohr ab. Dafür hat das Team hochentwickelte Abgasnachbehandlungsmodelle sowie ein Rohemissionsmodell des Verbrennungsmotors eingebunden, das mit ETAS ASCMO erstellt wurde.

Die tausendfach parallelisierte Simulation in der Cloud verschafft Powertrain-Entwicklern Zugang zu einer hocheffizienten Lösung, die RDE-Tests auf eine sehr viel breitere Datenbasis stellt, als es mit realen Testfahrten möglich und finanzierbar wäre. Auf dieser Basis können die Entwickler reale Tests gemäß RDE-Zyklus präzise vorbereiten, um die virtuellen Werte an der Realität abzugleichen. Natürlich steht und fällt der Erfolg einer solchen Lösung mit ihrer Usability. Damit Entwickler von ihrem Arbeitsplatz aus mit dem Modell interagieren und dessen Funktionsfähigkeit vor der Cloud-Simulation verifizieren können, ist die Gesamtlösung auch am PC verfügbar. Zudem unterstützen Tailored Data Analytics eine effiziente Versuchsauswertung. So ebnet die neue Lösung schnelle und planbare Wege zu jenen statistisch relevanten Fahrdaten, die für eine gesetzeskonforme, rundum sichere Auslegung der Antriebssteuerung nötig sind.

Bild 3: Modularer, frei skalierbarer Baukasten zur Entwicklung eines Virtual Vehicle.

Fazit und Ausblick

Mit der cloudbasierten Simulation auf Basis realistischer Fahrtrajektorien und Fahrzeugmodelle zeigt ETAS nicht nur einen Ausweg aus jener Komplexitätsfalle auf, die infolge steigender Antriebsvielfalt und der RDE-Regularien droht. Vielmehr verspricht der neue Ansatz deutliche Qualitätssteigerungen. Denn an die Stelle einer geringen Anzahl nicht reproduzierbarer Testfahrten mit wenigen Fahrern rücken bei der Antriebsauslegung tausende parallelisierte Testfahrten im virtuellen Raum. Dank AI bilden sie die ganze Vielfalt des Verkehrsgeschehens in statistisch relevanten Trajektorien ab. Damit wird die im RDE-Zyklus geforderte Realitätsnähe über den Umweg der Virtualisierung umsetzbar.

ETAS entwickelt die eingesetzten Fahrzeug-, Strecken- und Fahrermodelle stetig weiter und baut sie zu einer kompletten Werkzeugkette für die cloudbasierte Simulation aus. Kunden können ab sofort mit der rundum virtualisierten Entwicklungsmethode arbeiten. Im nächsten Schritt wird es darum gehen, die cloudbasierte Lösung für effizientere kollaborative Prozesse nutzbar zu machen und AI-Algorithmen für die Auswertung der virtualisierten Versuche zu trainieren. Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als einen neuen State­-of-the-Art der Powertrain-Entwicklung.

Autor

Dr. Nils Tietze ist Solution Manager im Bereich Measurement, Calibration, and Diagnostics der ETAS GmbH.

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